Von der Wildnis lernen

von Christina Jung

Dr. Markus Dietz (links) informiert im Hungener Stadtwald über die Bedeutung des Wildnisprojektes für die Zukunft. Foto von Tina Jung
Dr. Markus Dietz (links) informiert im Hungener Stadtwald über die Bedeutung des Wildnisprojektes für die Zukunft. Foto von Tina Jung

Die NABU-Stiftung des Bundes hat Anfang des Jahres die Nutzungsrechte an 176 Hektar Hungener Stadtwald gekauft. Das Areal zwischen Langd und Villingen wurde aus der forstlichen Nutzung herausgenommen und darf sich künftig gemäß seiner natürlichen Dynamik zu einer Wildnis entwickeln. Das wurde gestern vor Ort gefeiert.

 

Hungens Bürger wurden zum Thema befragt. Die Kommunalpolitik diskutierte monatelang, mitunter sehr emotional. Am Ende stand im Mai 2022 die Entscheidung, 176 Hektar des Schäferstadtwaldes aus der Bewirtschaftung herauszunehmen und die Nutzungsrechte für das Areal an die NABU-Stiftung des Bundes zu verkaufen, um sie in den Wildnisfonds zu überführen. Gestern wurde diese Entscheidung in einem Teil eben jenes Stadtwaldes feierlich gewürdigt. Mit von der Partie: Staatssekretärin Dr. Bettina Hoffmann (Bundesumweltministerium) sowie Staatssekretär Oliver Conz (Hessisches Umweltministerium). Die fachliche Leitung hatte Diplom-Biologe Dr. Markus Dietz (Institut für Tierökologie und Naturbildung, Gonterskirchen).

 

Deutlich wurde bei der offiziellen Feierstunde, die auch einen Rundgang beinhaltete und der sich knapp 30 Interessierte angeschlossen hatten, warum die Experten der Entscheidung eine so große Relevanz beimessen: Weil der wilde Wald über seine größere Holzmasse und den Boden mehr Feuchtigkeit beziehungsweise CO2 speichert als der bewirtschaftete. Weil er Arten Lebensraum bietet, die auf genutzten Flächen gar nicht vorkommen und damit zu deren Viefalt beiträgt. Und weil er in Zukunft zeigen wird, welche Bäume dem Klimawandel unter welchen Bedingungen standhalten und welche nicht.

 

Dr. Markus Dietz (links) informiert im Hungener Stadtwald über die Bedeutung des Wildnisprojektes für die Zukunft. © Tina Jung

Voll des Lobes zeigte sich angesichts dieser Aussichten insbesondere die vertretene Politprominenz. »Wir sollten schätzen, was hier entsteht«, appellierte Staatsekretärin Bettina Hoffmann angesichts dieses »ganz herrlichen Fleckchens Erde«. Sie hoffe auf weitere Förderanträge und Projektinitiativen aus dieser Gegend. Mit dem Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz stelle die Bundesregierung vier Milliarden Euro zur Verfügung, um den allgemeinen Zustand der Ökosysteme in Deutschland deutlich zu verbessern.

 

»Was Sie hier vollbracht haben, ist etwas ganz Außergewöhnliches«, resümierte auch Oliver Conz, Staatssekretär des Hessischen Umweltministeriums. In einer von Kurzlebigkeit geprägten Zeit benötige es Mut, eine solche, auf Langfristigkeit angelegte Entscheidung zu treffen.

 

Bürgermeister Rainer Wengorsch hob die Bedeutung intakter Naturräume und deren Bewahrung hervor, erinnerte aber auch daran, dass der Weg zur Entscheidung für das Wildnisgebiet nicht leicht gewesen sei. Viele Gespräche hätten geführt, Menschen überzeugt werden müssen. Aber: »Es ist schon etwas Besonderes«, sagte Wengorsch, der den Prozess weiterhin positiv begleiten und die Bevölkerung auf dem eingeschlagenen Weg mitnehmen will.

 

Wie wichtig die Akzeptanz der Bürger bei einem solchen Projekt ist, betonte auch Dr. Markus Dietz. Sein Lob galt in diesem Zusammenhang besonders den Vertretern der örtlichen Naturschutzgruppen, die »gute Arbeit gemacht« hätten.

 

Die Entscheidung, 176 Hektar Stadtwald aus der Bewirtschaftung herauszunehmen, ist laut Dietz eine Entscheidung für die Zukunft. Warum, erläuterte der Experte an verschiedenen Standorten im Wald, einer davon eine Fläche mit jungen, rund 100 Jahre alten Buchen. Die dominante Baumart in Hessen und deshalb mit Blick auf den Klimawandel besonders im Fokus der Fachleute.

 

Die Buche verfügt im Gegensatz zu anderen Baumarten über eine hohe ökologische Amplitude. Heißt konkret: Sie wächst unter sehr unterschiedlichen Bedingungen und kommt auch mit weniger Niederschlag aus. Einziges Problem: Längere Trockenperioden im Frühjahr und direkte Sonneneinstrahlung machen ihr zu schaffen. Letztere trifft und schädigt die Buche insbesondere dann, wenn ein geschlossenes Kronendach - beispielsweise durch forstwirtschaftliche Eingriffe - fehlt. Ein entscheidender Unterschied zum Wildnisgebiet, in dem der Wald selbst regelt, welcher Baum überlebt und welcher nicht. Dietz: »Hier können wir lernen, wie Buchen sich anpassen.«

Waldwildnis in Hessen

In den letzten beiden Jahren ist mit Hilfe des Wildnisfonds ein eindrucksvoller Buchenwald in Mittelhessen zum Wildnisgebiet geworden. Bereits Ende 2020 erwarb die NABU-Stiftung Nationales Naturerbe mit Mitteln des Bundesumweltministeriums die Nutzungsrechte für 224,5 Hektar Privatwald von der Gräflichen Forstverwaltung Solms Laubach. Zusammen mit einer angrenzenden, rund 800 ha großen Staatswaldfläche des Landes Hessen umfasste das Gebiet die erforderliche Größe für ein Wildnisgebiet von gut 1.000 Hektar. Neben anderen Akteuren, hat außerdem das Institut für Tierökologie und Naturbildung GmbH viel Zeit aufgebracht vor Ort Bedenken aus den Weg zu räumen und die Umsetzungen voranzubringen. Seit Februar nun ist das Gebiet um weitere 176 ha größer geworden, da die Stadt Hungen per Stadtverordnetenbeschluß eine Teilfläche ihres Stadtwaldes für die Weiterentwicklung dieses Waldwildnisgebietes zur Verfügung gestellt hat. Der Nutzungsverzicht wird mit 4,4 Millionen Euro aus dem Wildnisfonds vergütet.

Die neue hessische Waldwildnis umfasst nunmehr 1.200 ha Fläche und ist frei von technischen Infrastrukturen und öffentlichen Verkehrswegen. Eine Holznutzung findet nicht mehr statt und die natürliche Dynamik führt alleine Regie.

Die Basaltverwitterungsböden im vorderen Vogelsberg sind enorm produktiv, so dass nicht nur mächtige Buchen wachsen, sondern sich auch sehr vielfältige Buchenwaldökosysteme entwickeln. Im nunmehr entstandenen Wildnisgebiet „Laubacher Wald – Westlicher Vogelsberg“ wachsen rund 70 Prozent Buchen, kleine, sich auflösende Fichtenbestände sowie Anteile an Eichen und anderen Laubhölzern sind ebenfalls zu finden. Der Anteil von Buchen- und Eichenwäldern, die älter als 160 Jahre sind, liegt weit über dem Bundesdurchschnitt. Sie bieten hervorragende Bedingungen für eine schnell einsetzende natürliche Waldentwicklung. Bereits heute ist die Artenvielfalt beeindruckend. Zahlreiche europäisch geschützte Tier- und Pflanzenarten finden im Wildnisgebiet ein geeignetes Habitat. Dazu zählen unter anderem die Bechsteinfledermaus und weitere zwölf Fledermausarten, Schwarz-, Grau- und Mittelspecht, die Wildkatze, der Feuersalamander oder das Grüne Besenmoos. Überzeugend für die Menschen vor Ort ist die positive Wirkung des Waldgebietes für das Regionalklima, die Wasserrückhaltung und ebenso die Grundwasserneubildung.

Gegenwärtig läuft durch das Umweltministerium Hessen und das Regierungspräsidium Gießen der Ausweisungsprozess als Naturschutzgebiet, womit dann auch eines der größten hessischen Waldnaturschutzgebiete entsteht.

Der Wildnisfonds ist ein Förderprogramm des Bundesumweltministeriums. Er soll Flächenbesitzer wie Kommunen, Kirchen oder Privatleute unterstützen, die ihre Flächen in eine natürliche Entwicklung überführen möchten. Stiftungen und Naturschutzorganisationen können Wald-, Moor- oder Auenflächen oder das Nutzungsrecht mit Fördergeldern des Wildnisfonds erwerben – insgesamt 20 Millionen Euro stehen dafür pro Jahr im Haushalt zur Verfügung. Solche Wildnisgebiete sollen idealerweise 500 bis 1.000 Hektar groß sein. Um die Förderung in Anspruch zu nehmen, können Flächen jedoch auch kleiner sein. Sie müssen aber ein schon bestehendes Gebiet durch Tausch oder Arrondierung so erweitern können, dass in absehbarer Zukunft ein großes, zusammenhängendes Wildnisgebiet entstehen kann.

 

Weiterführende Informationen zum Wildnisgebiet „Westlicher Vogelsberg“ und dem Wildnisfonds finden Sie unter:

www.z-u-g.org/aufgaben/wildnisfonds/

www.wildnisindeutschland.de/wildnisfonds/

https://naturerbe.nabu.de/aktiv/wildesland/29153.html

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